Hans Kelsen Wesen und Wert der Demokratie

Wesen und Wert der Demokratie

Vortrag v 5.11.1919; JBI 1919, 378 ff.

 

Hans Kelsen

 

Demokratie ist das Schlagwort, das die Geister im 19. und 20. Jahrhundert beherrschte, so sehr, daß gar niemand ihm öffentlich entgegengetreten ist, so sehr aber auch, daß es schon seinen festen Sinn verloren hatte. Die soziale Revolution, die im Gefolge des Weltkrieges aufgetreten ist und von der Sozialdemokratie nur das soziale Streben behält, an die Stelle der Demokratie aber die Diktatur des Proletariats setzen will, nötigt uns zu einer Revision des Begriffes.

 

Die Idee der Demokratie vereinigt in sich zwei oberste Postulate der praktischen Vernunft: die Forderung nach der Freiheit und die nach der Gleichheit. Beide sind durchaus negativ. Die Freiheit verlangt, daß wir nicht beherrscht werden; die Gleichheit kann nur gewahrt werden, wenn wir uns innerhalb gewisser Grenzen beherrschen lassen. Aber nur von uns selbst! Diese Freiheit durch politische Selbstbestimmung, durch die Mitwirkung aller an dem Staatswillen, pflegt man als die antike im Gegensatz zu der germanischen zu bezeichnen, die auf absolutes Freisein vom Staate aufgebaut sei. Diese Unterscheidung ist aber nicht richtig; die sogenannte antike Auffassung ist nur der Fortschritt von der ursprünglichen zu der des staatlichen Zwangsprozesses. Der Freiheitsgedanke, der sich seinem Wesen nach gegen die Gesellschaft stellt, wird unbewußt zum Ausdrucke für eine bestimmte Stellung des einzelnen in der Gesellschaft. Rousseau hat das Postulat der Freiheit auf das schärfste entwickelt ‑. ihm ist der Bürger nur in dem Augenblicke frei, wo er seinen Abgeordneten wählt oder an einer Volksabstimmung teilnimmt. Und da wird er noch von der Mehrheit erdrückt ‑ dem ist aber nicht abzuhelfen. Immerhin müßte der Staat nach Rousseaus Ansicht durch Einstimmigkeit entstehen; seine Weiterentwicklung aber ist doch nur durch Mehrheitsbeschlüsse möglich. Auch derjenige, der mit der Mehrheit gestimmt hat, ist unfrei, weil er seinen Willen nicht mehr ändern kann, um so unfreier, je größer die Mehrheit ist, deren eine Abänderung der gefaßten Beschlüsse bedarf. Wenn dazu Stimmeneinhelligkeit nötig wäre, würde dasselbe Mittel, das bei der Gründung des Staates die volle Gewähr der Freiheit ist, hier zu ihrer ärgsten Fessel. Praktisch kommt jedoch fast nur die Fortbildung des Staates und somit der Grundsatz der Mehrheit in Betracht, der der Idee der Freiheit immer noch am nächsten kommt. Aus der Freiheit ist das Majoritätsprinzip abzuleiten, nicht ‑ wie es meist geschieht ‑ aus der Gleichheit. Die Gleichheit der Persönlichkeiten besteht in Wirklichkeit nicht. Sie ist nur ein Bild, darum läßt sich auch nicht sagen, daß mehr Stimmen ein größeres Gewicht haben als die wenigeren. Nur der Gedanke, daß ‑ wenn schon nicht alle ‑ doch möglichst viele mit ihrem Willen dem Willen der Gesamtheit parallel gehen sollen, kann das Übergewicht der Mehrheit rechtfertigen. Dadurch tritt der Gedanke der individuellen Freiheit, die ja doch unerreichbar ist, in den Hintergrund gegen die metaphysische Person des Staates ‑ losgelöst von den Lenkern des Staates, zu denen sie gewissermaßen in Gegensatz tritt als Wille der Gesamtheit gegenüber ihren Einzelwillen. "So verdeckt der Schleier der Staatspersonifikation das dem demokratischen Empfinden unerträgliche Faktum der Herrschaft von Mensch über Mensch."

 

Daraus ergibt sich die Vorstellung, daß der Mensch nur in organischer Verbindung mit den anderen in der Staatsordnung frei ist. Rousseau meint, der Untertan gebe seine ganze Freiheit auf, um sie als Staatsbürger wieder zu erhalten. An Stelle der Freiheit des einzelnen tritt der freie Staat, in dem allein der Bürger frei sein kann. Wer sich dem Staatswillen nicht fügen will, wird letzten Endes von dem Staat gezwungen ‑ frei zu sein. Das klingt paradox, ist aber doch nur das letzte Glied der logischen Entwicklungsreihe von der Freiheit des einzelnen zum sozialen Staat.

 

Im Zuge derselben Entwicklung zieht sich die individuelle Freiheit auf die angeborenen und unveräußerlichen Menschen‑ und Bürgerrechte zurück, für die die französische Revolution die klassische Formulierung gefunden hat. Sie dienen als Schutzwall gegen den Mißbrauch der Herrschergewalt, dem der Bürger, nicht weniger als von dem absoluten Monarchen, auch von der Mehrheit, "dem König der Demokratie", ausgesetzt ist, ‑ als Schutz der Minderheit. Dieser Schutz findet den besten Ausdruck in dem Grundsatz der Proportionalität der Gewählten zu den Wählern. Und wenn auch dann im Vertretungskörper doch die Mehrheit entscheiden muß, so ist der Einfluß der Minderheit nicht zu unterschätzen; er führt auch vielfach zu Kompromissen, die ja überhaupt die Politik der Demokratie kennzeichnen.

 

In ihrer letzten Konsequenz würde der Proporz das Repräsentativsystem wieder auflösen und zur Volksabstimmung führen, die allerdings die reine und unmittelbare Demokratie wäre. In dieser Richtung bewegte sich denn auch vielfach die Tendenz schon vor dem Kriege; seither ist das Vertrauen in die Volksvertretungen noch viel mehr erschüttert worden. Überall zeigt sich Interesse für Referendum und Volksinitiative; immer mehr wird die Ansicht bestritten, daß der Abgeordnete bloß Organ des Gesamtstaates sei, daß er nicht die Interessen seiner Wähler einseitig vertreten und deshalb kein imperatives Mandat annehmen dürfe. Tatsächlich bestand das imperative Mandat schon lange und mit Recht.

 

Im Anschlusse an diese Ideen hat Lenin in seinen Schriften die Abschaffung des Parlamentarismus gefordert. Aber schließlich konnten auch die Bolschewiken auf eine Repräsentation nicht verzichten, so daß auch ihr Versuch keine Überwindung der Demokratie, sondern eher eine Rückkehr zu ihr ist. Gerade die kurze Mandatsdauer, die Möglichkeit jederzeitiger Abberufung der Sowjetabgeordneten, die von ihren Wählern dadurch völlig abhängen, das alles ist echte Demokratie. Was Wählerversammlungen nie vermögen, der innige Kontakt der Wähler untereinander und mit den Gewählten, das wird dadurch bewirkt, daß einzelne wirtschaftliche Betriebe oder z. B. ein Regiment, zu Wahlkörpern werden, aus denen die Lokalsowjets hervorgehen. Diese wählen die Provinzsowjets, von denen der allrussische Kongreß der Arbeiter‑, Bauern‑ und Soldatenräte gewählt wird. Damit findet der Volkswille seinen besten Ausdruck und wird die größte Anpassungsfähigkeit der Vertretungskörper an den wechselnden Volkswillen erzielt. Daß bei diesem Anlaß die Arbeiter auch in die Leitung der Unternehmungen eingreifen, entspricht dem sozialistischen Organisationsprinzip. Diese demokratische Form der Sowjets war nicht von Anfang an beabsichtigt; sie ist auch nicht rein durchzuführen. Die Bauernschaft z. B. läßt sich nur territorial, nach Dörfern, in das System einfügen. Bei den wirtschaftlichen Betrieben wieder ist die Gefahr nicht ausgeschlossen, daß die Politisierung den Produktionszweck beeinträchtigt. Die Erfahrungen in Rußland sind keine guten: gerade diese Mängel sind aber mit der unmittelbaren Demokratie verbunden. In fortgeschrittenen Großstaaten ist sie undurchführbar.

 

In Rußland zeigt sich eben durch die Unmittelbarkeit des Verhältnisses der Wähler zu den Gewählten eine Hypertrophie an Vertretungskörpern und das Bestreben, bis in den Einzelfall alles dort zu erledigen. Damit soll auch die Verwaltung demokratisiert und der Grundsatz von der Trennung der Gewalten aufgegeben werden. Es ist falsch, diesen Grundsatz als demokratisch anzusehen. Es ist auch nicht richtig, daß er, wie Montesquieu meinte, der englischen Verfassung entspringe. Der letzte Zweck dieses Satzes scheint zu sein, dem konstitutionellen Monarchen ein Übergewicht über die gesetzgebende Gewalt zu sichern. In den Vereinigten Staaten, wo dieses Prinzip als unantastbares Dogma gilt, ist auch die Stellung des Präsidenten, der von dem ganzen Volke gewählt und von den Vertretungskörpern unabhängig ist, durchaus nicht den demokratischen Grundsätzen entsprechend, sondern direkt dem britischen Königtum nachgebildet.

 

Der Grundsatz von der Trennung der Gewalten, der die Demokratisierung der Staaten hemmt, beruht auch innerlich auf einer unrichtigen Auffassung der Rechtsgestaltung, die sich keineswegs in der Gesetzgebung erschöpft, vielmehr bis zu der Entscheidung des einzelnen Rechtsfalles (ja zum Abschlusse des einzelnen Rechtsgeschäftes) fortschreitet. Die sogenannte Exekutive ist demnach ein ebenso wichtiger Faktor der Rechtserzeugung wie die Legislative. Es mangelt also an dem Grunde, um diese beiden Teile eines Prozesses so scharf voneinander zu trennen. Schon in der bürgerlichen Demokratie wurde der Grundsatz durchbrochen, von oben durch die parlamentarische Regierung, von unten durch die Selbstverwaltung der Gemeinden. Auch von bürgerlicher Seite (Max Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland) wird verlangt, daß das Parlament die Verwaltung fortlaufend mitarbeitend kontrolliere. Ähnliches fordert Lenin in seinen Schriften.

 

Aber die Volksvertretungen sind für die Ausübung der Verwaltung wenig geeignet. Der Abgeordnete bleibt doch immer in seinem Hauptberuf; die Aufgaben der Staatsverwaltung erfordern einen ganzen Mann, der sie als Lebensberuf behandelt. Freilich sollte die Auswahl der Volksvertreter eine bessere sein; dann würde die Bürokratie nicht auch in freien Staaten jenes Übergewicht erlangen, das auf ihrer besseren Eignung für die Verwaltung beruht. Das demokratische Ideal in dieser Beziehung ist aber keineswegs für fortgeschrittene Staaten brauchbar; es wäre die Aufhebung jeder Entwicklung und politischen Differenzierung.

 

Die Demokratie ist ihrem Wesen nach auf einfache Verhältnisse gerichtet; der Bolschewismus verlangt in letzter Linie Abschaffung der bürokratischen Unterordnung und der Obrigkeit, also Anarchismus. Allerdings nur in der Theorie ‑ in einem Bericht an das Zentralkomitee der Arbeiter‑ und Soldatenräte fordern Lenin und Trotzki angesichts der völligen Auflösung der Produktion die Diktatur einzelner Personen.

 

Hier zeigt sich der innere Widerspruch des demokratischen Problems: dem Volk, das herrschen soll, fehlt das notwendigste Erfordernis, die Einheitlichkeit der Beschaffenheit und des Willens. Wenn es einen Vertretungskörper wählt, kommen in diesem die Verschiedenheiten seiner Bestandteile, ihre Bedeutung für den Gesamtkörper nicht zur Geltung.

 

Undemokratisch ist die Einschränkung des Repräsentationsrechtes auf die proletarische Klasse allein, wie sie in Rußland geübt wurde, in ihren Ausstrahlungen in die übrigen Länder, die eine solche Alleinherrschaft der Arbeiterklasse nicht dulden, kommt es zu einem neuen Rückschritt, zu der ständigen Gliederung. Deren Wirkung ist noch nicht abzumessen ‑ sicher aber wird der Apparat äußerst schwerfällig, seine Tendenz geradezu auflösend. Eine moderne Demokratie braucht die möglichste Einheitlichkeit, ja Einfachheit der Organisation. Diese wird auch in der Praxis angestrebt.

 

Aber die Einheit des Staates ist noch lange nicht Einheit des Volkes und Volkswillens; nicht weil die Demokratie dazu weniger geeignet wäre als eine andere Form der Politik, sondern weil die Bildung des Volkswillens selbst ein ganz problematisches Phänomen ist. Die Masse des Volkes kann aus sich heraus einen Willen nicht hervorbringen; sie bedarf dazu einer führenden Persönlichkeit; so herrschen schließlich auch hier die Wenigen über die Vielen. Freilich ist gerade die Demokratie das Mittel für die bestmögliche Auslese der Führer, weil sie die breiteste Grundlage für den Wettbewerb, ja weil sie den Wettbewerb selbst schafft, und weil in diesem Kampfe nur die Führerqualitäten entscheiden, während in der autokratischen Monarchie für Ministerstellen u.dgl. oft geradezu das Gegenteil maßgebend ist. Nur daß die Führung, auch durch die Besten, dem Grundwesen der Demokratie, der Führerlosigkeit, widerstreitet. Auf die Frage, wie im Idealstaate eine Führernatur zu behandeln wäre, erwidert Sokrates in Platons Politeia, man würde ihn verehren und bewundern, aber ihn, da es einen solchen Mann im Staate nicht geben dürfe, in aller Höflichkeit über die Grenze schaffen! In Wirklichkeit ist es jedoch anders; solange das Volk nicht aus Göttern besteht, meint Rousseau, wird immer die kleinere Zahl über die größere herrschen.

 

Ist aber die wirkliche Gleichheit aller nicht zu erreichen, so ist es schon wertvoll, daß allen wenigstens die gleiche Möglichkeit zu allen Funktionen des Staates zu gelangen, allen die gleiche Erziehung für den Staatszweck offenstehe. Allein das liegt in der Zukunft. Gegenwärtig fehlt es dort, wo das Proletariat die Gewalt übernommen hat, an geeigneten Personen aus seiner Klasse, die befähigt wären, die Verwaltung zu führen und festzuhalten. Daraus erklärt sich nicht nur der soziale Zusammenbruch in Rußland; auch die Schwierigkeiten der sozialdemokratischen Partei in Deutschland wie in Österreich, deren Führer meist der Bourgeoisie entstammen, sind vielfach daraus zu erklären, daß sie nicht über die qualifizierten Kräfte verfügen, um sich des Regierungsapparates in ausreichendem Maße zu bemächtigen.

 

Auch die Abgrenzung des Begriffes "Volk" als Träger des Staatswillens bietet große Schwierigkeit. Aus der Masse der Landesbewohner werden gewisse Gruppen wie Kinder und Geisteskranke immer, andere wie Ausländer, Frauen, Sklaven, Verbrecher je nach dem Standpunkte des Gesetzgebers, von der Mitwirkung ausgeschlossen. Und für die, denen die Rechte bleiben, muß die Fiktion der Repräsentation zu Hilfe kommen; denn in Wirklichkeit besteht politisch das Volk aus denen, die ihre politischen Rechte oder doch wenigstens das Wahlrecht zur Volksvertretung, wirklich ausüben. Dadurch kann die Demokratie zur Farce werden.

 

Die Auswahl der Berechtigten aus der Masse des Volkes ist der Prüfstein für die demokratische Beschaffenheit der Verfassung; ist die Anzahl zu beschränkt, so ist sie eine aristokratische. Eine objektive Begrenzung zu finden, ist schwer; Rousseaus Maßstab, daß zur Demokratie die Mitwirkung des halben Volkes genüge, ist willkürlich. Plato beschränkt seinen kommunistischen Staat auf eine bestimmte Klasse. Ebenso ist der Neokommunismus der Bolschewiken eine klassenmäßig beschränkte Demokratie, deren Radikalismus den Begriff der Demokratie aufhebt. Nicht so sehr weil sie nur den Werktätigen politische Rechte verleihen, sondern weil sie von diesen alle jene, die Lohnarbeiter beschäftigen, sowie Händler, Geistliche und Beamte der Kultusorganisationen ausschließen, dann aber, wenn die Nachrichten stimmen, weil das industrielle Proletariat gegenüber den armen Bauern (nur diese haben überhaupt Rechte) das fünffache Wahlrecht hat. Dagegen ist ein wichtiger Fortschritt zu verzeichnen, indem den (werktätigen) Ausländern die gleichen Rechte eingeräumt sind wie den Inländern. Doch kann von Demokratie keine Rede sein: Vereins‑ und Versammlungsfreiheit, Freiheit der Meinungsäußerung und der Presse ist von der Verfassung nur der Arbeiterklasse, nach Berichten von sozialistischer Seite in Wirklichkeit nur den Angehörigen der herrschenden Richtung gewährleistet. Der Demokratie wird mit Bewußtsein die Diktatur entgegengesetzt, als deren Ziel die Vernichtung der Bourgeoisie proklamiert, d. h. aller jener, die sich dem sozialistischen Programm widersetzen. Das ist umso merkwürdiger, als seit Marx und Engels der theoretische Sozialismus immer darauf fußte, daß die Arbeiterklasse, im Besitze der großen Mehrheit, auf wahrhaft demokratischem Wege mit Leichtigkeit ihr Ziel erreichen werde. Die Bildung großer bürgerlicher Demokratien, wie in Westeuropa und Amerika, neuestens auch in Deutschland und Österreich, hat aber gezeigt, daß das allgemeine und gleiche Wahlrecht noch nicht die sozialistische Herrschaft bringt. Das Proletariat bildet eben in Wahrheit nicht die überwiegende Mehrzahl der politisch Berechtigten. Das hat nun zu der grundstürzenden Änderung der Politik jener Sozialisten geführt, die mit der Diktatur der Partei operieren.

 

Gerade solchen Bestrebungen entgegen zeigt die Demokratie ihr tiefstes Wesen, ihren höchsten Wert. Sie achtet jede Überzeugung und Meinungsäußerung; die Mehrheit bildet nicht nur die Opposition der Minderheit, sie schützt sie und läßt sich von ihr beeinflussen. Der Relativismus in jeder Form schließt den Absolutismus aus, sowohl seitens einer Person, einer Gruppe, wie auch den eines Parteidogmas. Das Wort Stahls: "Autorität nicht Majorität" ist das fortgeschrittene Staaten brauchbar; es wäre die Aufhebung jeder Entwicklung und politischen Differenzierung. Die Demokratie ist ihrem Wesen nach auf einfache Verhältnisse gerichtet; der Bolschewismus verlangt in letzter Linie Abschaffung der bürokratischen Unterordnung und der Obrigkeit, also Anarchismus. Allerdings nur in der Theorie ‑ in einem Bericht an das Zentralkomitee der Arbeiter‑ und Soldatenräte fordern Lenin und Trotzki angesichts der völligen Auflösung der Produktion die Diktatur einzelner Personen.

Hier zeigt sich der innere Widerspruch des demokratischen Problems: dem Volk, das herrschen soll, fehlt das notwendigste Erfordernis, die Einheitlichkeit der Beschaffenheit und des Willens. Wenn es einen Vertre­tungskörper wählt, kommen in diesem die Verschiedenheiten seiner Bestandteile, ihre Bedeutung für den Gesamtkörper nicht zur Geltung.

 

Undemokratisch ist die Einschränkung des Repräsentationsrechtes auf die proletarische Klasse allein, wie sie in Rußland geübt wurde, in ihren Ausstrahlungen in die übrigen Länder, die eine solche Alleinherrschaft der Arbeiterklasse nicht dulden, kommt es zu einem neuen Rückschritt, zu der ständigen Gliederung. Deren Wirkung ist noch nicht abzumessen ‑ sicher aber wird der Apparat äußerst schwerfällig, seine Tendenz geradezu auflösend. Eine moderne Demokratie braucht die möglichste Einheitlichkeit, ja Einfach­heit der Organisation. Diese wird auch in der Praxis angestrebt.

 

Aber die Einheit des Staates ist noch lange nicht Einheit des Volkes und Volkswillens; nicht weil die Demokratie dazu weniger geeignet wäre als eine andere Form der Politik, sondern weil die Bildung des Volkswillens selbst ein ganz problematisches Phänomen ist. Die Masse des Volkes kann aus sich heraus einen Willen nicht hervorbringen; sie bedarf dazu einer führenden Persönlichkeit; so herrschen schließlich auch hier die Wenigen über die Vielen. Freilich ist gerade die Demokratie das Mittel für die bestmögliche Auslese der Führer, weil sie die breiteste Grundlage für den Wettbewerb, ja weil sie den Wettbewerb selbst schafft, und weil in diesem Kampfe nur die Führerqualitäten entscheiden, während in der autokratischen Monarchie für Ministerstellen u.dgl. oft geradezu das Gegenteil maßgebend ist. Nur daß die Führung, auch durch die Besten, dem Grundwesen der Demokratie, der Führerlosigkeit, widerstreitet. Auf die Frage, wie im Idealstaate eine Führernatur zu behandeln wäre, erwidert Sokrates in Platons Politeia, man würde ihn verehren und bewundern, aber ihn, da es einen solchen Mann im Staate nicht geben dürfe, in aller Höflichkeit über die Grenze schaffen! In Wirklichkeit ist es jedoch anders; solange das Volk nicht aus Göttern besteht, meint Rousseau, wird immer die kleinere Zahl über die größere herrschen.

 

Ist aber die wirkliche Gleichheit aller nicht zu erreichen, so ist es schon wertvoll, daß allen wenigstens die gleiche Möglichkeit zu allen Funktionen des Staates zu gelangen, allen die gleiche Erziehung für den Staatszweck offenstehe. Allein das liegt in der Zukunft. Gegenwärtig fehlt es dort, wo das Proletariat die Gewalt übernommen hat, an geeigneten Personen aus seiner Klasse, die befähigt wären, die Verwaltung zu führen und festzuhalten. Daraus erklärt sich nicht nur der soziale Zusammenbruch in Rußland; auch die Schwierigkeiten der sozialdemokratischen Partei in Deutschland wie in Österreich, deren Führer meist der Bourgeoisie entstammen, sind vielfach daraus zu erklären, daß sie nicht über die qualifizierten Kräfte verfügen, um sich des Regierungsapparates in ausreichendem Maße zu bemächtigen.

 

Auch die Abgrenzung des Begriffes "Volk" als Träger des Staatswillens bietet große Schwierigkeit. Aus der Masse der Landesbewohner werden gewisse Gruppen wie Kinder und Geisteskranke immer, andere wie Ausländer, Frauen, Sklaven, Verbrecher je nach dem Standpunkte des Gesetzgebers, von der Mitwirkung ausgeschlossen. Und für die, denen die Rechte bleiben, muß die Fiktion der Repräsentation zu Hilfe kommen; denn in Wirklichkeit besteht politisch das Volk aus denen, die ihre politischen Rechte oder doch wenigstens das Wahlrecht zur Volksvertretung, wirklich ausüben. Dadurch kann die Demokratie zur Farce werden.

 

Die Auswahl der Berechtigten aus der Masse des Volkes ist der Prüfstein für die demokratische Beschaffenheit der Verfassung; ist die Anzahl zu beschränkt, so ist sie eine aristokratische. Eine objektive Begrenzung zu finden, ist schwer; Rousseaus Maßstab, daß zur Demokratie die Mitwirkung des halben Volkes genüge, ist willkürlich. Plato beschränkt seinen kommunistischen Staat auf eine bestimmte Klasse. Ebenso ist der Neokommunismus der Bolschewiken eine klassenmäßig beschränkte Demokratie, deren Radika­lismus den Begriff der Demokratie aufhebt. Nicht so sehr weil sie nur den Werktätigen politische Rechte verleihen, sondern weil sie von diesen alle jene, die Lohnarbeiter beschäftigen, sowie Händler, Geistliche und Beamte der Kultusorganisationen ausschließen, dann aber, wenn die Nachrichten stimmen, weil das industrielle Proletariat gegenüber den armen Bauern (nur diese haben überhaupt Rechte) das fünffache Wahlrecht hat. Dagegen ist ein wichtiger Fortschritt zu verzeichnen, indem den (werktätigen) Ausländern die gleichen Rechte eingeräumt sind wie den Inländern. Doch kann von Demokratie keine Rede sein: Vereins‑ und Versammlungsfreiheit, Freiheit der Meinungsäußerung und der Presse ist von der Verfassung nur der Arbeiterklasse, nach Berichten von sozialistischer Seite in Wirklichkeit nur den Angehörigen der herrschenden Richtung gewährleistet. Der Demokratie wird mit Bewußtsein die Diktatur entgegengesetzt, als deren Ziel die Vernichtung der Bourgeoisie proklamiert, d. h. aller jener, die sich dem sozialistischen Programm widersetzen. Das ist umso merkwürdiger, als seit Marx und Engels der theoretische Sozialismus immer darauf fußte, daß die Arbeiterklasse, im Besitze der großen Mehrheit, auf wahrhaft demokratischem Wege mit Leichtigkeit ihr Ziel erreichen werde. Die Bildung großer bürgerlicher Demokratien, wie in Westeuropa und Amerika, neuestens auch in Deutschland und Österreich, hat aber gezeigt, daß das allgemeine und gleiche Wahlrecht noch nicht die sozialistische Herrschaft bringt. Das Proletariat bildet eben in Wahrheit nicht die überwiegende Mehrzahl der politisch Berechtigten. Das hat nun zu der grundstürzenden Änderung der Politik jener Sozialisten geführt, die mit der Diktatur der Partei operieren.

 

Gerade solchen Bestrebungen entgegen zeigt die Demokratie ihr tiefstes Wesen, ihren höchsten Wert. Sie achtet jede Überzeugung und Meinungsäußerung; die Mehrheit bildet nicht nur die Opposition der Minderheit, sie schützt sie und läßt sich von ihr beeinflussen. Der Relativismus in jeder Form schließt den Absolutismus aus, sowohl seitens einer Person, einer Gruppe, wie auch den eines Parteidogmas. Das Wort Stahls: "Autorität nicht Majorität" ist das Angriffsziel aller geworden, die für die Wissenschaft und ihre Freiheit und politisch für Demokratie sind. Zwang zu Beobachtung seines Willens darf eigentlich nur der anwenden, der glaubt, sich auf überirdische Erleuchtung stützen zu können; wer aber nur menschlicher Erkenntnis die Ziele richten läßt, der kann das Mindestmaß an Zwang, das zu ihrer Erreichung unvermeidlich ist, durch die Zustimmung der Mehrheit rechtfertigen, muß aber dabei jede Rücksicht auf die Minderheit beobachten. Dem Wesen der Demokratie wohnt der politische Relativismus inne.

 

Als Jesus des Pilatus Frage, ob er der König der Juden sei, bejaht und sich dabei zu der Wahrheit bekannt hatte, fragte Pilatus: "Was ist Wahrheit?" Als er dann der Menge der Juden anheimgab, die Freilassung eines der Verurteilten zu verlangen, wählten sie Barabas, den Räuber und nicht Jesus. Das Ergebnis dieser Abstimmung könnte allerdings als Einwand gegen die Demokratie gelten, aber nur dann, wenn die politischen Stürmer und Dränger ihrer Sache so gewiß sind wie ‑ der Sohn Gottes! (Lebhafter Beifall.)